Ich würde allerdings sagen, dass es in Sprache kaum einen wirklichen Atavismus im engeren Sinne geben kann. Wenn ein Merkmal wirklich ausgestorben ist, dann ist es nirgends mehr gespeichert, außer vielleicht in schriftlichen Quellen. Wenn man durch Sprachpurismus und Sprachbeeinflussung nun wieder dieses Merkmal einführt, würde ich von einer Art engeren Atavismus sprechen. Aber da sind die Entstehungsumstände trotzdem außer- und nicht innersprachlich. Ein Beispiel wäre entfernt die Kasusrektion von "wegen". Ursprünglich aus dem Niederdeutschen kommend als "von ... Wegen" benötigte es ein Genitivattribut für den Dativ Plural von "Weg" (dt. Stelle). Die hochdeutschen Varietäten, die den Ausdruck entlehnten, die Bedeutung von "Weg" aber nicht kannten, machten daraus eine Präposition "wegen ...", die richtigerweise einen Dativ (oder Akkusativ) regiert. Sprachverbesserer und -vorschreiber hielten sich allerdings an eine frühere Sprachstufe und propagandierten wegen + Genitiv. (Die eigentliche Sprachgrenze klammern wir jetzt mal aus, mir fiel ad hoc kein anderes Beispiel ein.)
Alle anderen Formen würde ich nicht als engeren Atavismus zählen, weil sie eigentlich immer sekundäre Entwicklungen sind, die oberflächlich nur
dasgleiche sind aber nicht
dasselbe.
Wenn nun das Verb "niesen" früher stark war: ich nos (nôs), ich habe genosen (genorn) --> dann schwach wurde: ich nieste, ich habe geniest. --> und wieder stark wird mit den gleichen Formen ... dann würde ich das nicht direkt als engen Atavismus auffassen, weil der Grund zu dieser sekundären Neuentwicklung ein anderer ist als er es damals war. Germanisch "*hneus-a" war ein starkes Verb mit indogermanischer Herkunft, wo es nur ablautende Verben gab. Der Grund weshalb es schwach wurde und in theoretischer Zukunft stark sein könnte, sind Klassenwechsel, ergo eine andere Entwicklung und im Grunde nicht diesselbe Form, nur eine ähnliche Form.
Atavismus im weiteren Sinne könnte man dann auffassen, dass es (anders in der Biologie) zu einem Merkmal kommt, das eine ähnliche oder gleiche Form hat wie ein früherer Sprachstand, dessen Herkunft oder Entstehungsgrund aber zweirangig ist.
Darunter würden dann auch die fehlende S-Palatalisierung zählen, Umlautplurale bei Lehnwörtern etc.
Eine andere Auffassung von Atavismus könnte folgende sein:
Sprache wird ja oft und gerne mit Biologie allegorisiert. Bei einem Atavismus wird eine genetische Information, die bereits ausgestorben ist, die noch im genetischen Code gespeichert ist, wieder hervorgebracht - zum Beispiel die Augenbrauenwülste des Ab-in-den-Urlaub-Clowns. Sprache hat allerdings keinen neurologischen Speicher früherer, bereits ausgestorbener Sprachformen. Wenn man sich aber des biologischen Bildes bedient, dass die Geninformation in das Erbgut "zurückgedrängt" wurde und im Phänotyp nicht mehr vorkommt, könnte man auch sagen, dass ein Sprachmerkmal in einen Randdialekt zurückgedrängt wurde, dieser quasi als "Speicher" dieses Merkmals dient, in der "Haupt"varietät ist es aber verschwunden. Aus diesem Dialekt kann es aber wieder in die Mehrheitsvarietät zurückwandern. Das könnte man ja theoretisch auch als Atavismus bezeichnen, der der biologischen Allegorie nahekommt.
Dementsprechend sind Atavismen, wenn zwei sprachliche Formen übereinstimmen, die varietätenintern und diachron einen Abbruch der Kontinuität verzeichnen.
Obwohl ich die Grenzen des "Nicht-Speichers" doch wiederum schwammig finde. Zum Beispiel werden in allen (?) französischen Varietäten die meisten auslautenden Schwas nicht mitgesprochen. Dass sie dennoch phonologisch vorliegen, zeigt gesungenes Französisch, wo sie oft mitgesungen werden, oder in absichtlich betonten Wörtern (ähnlich wie Deutsch: laufen [la͜ʊfn̩] -
bet. [la͜ʊfən]). Anscheinend sind sie also noch vorhanden, werden nur nicht im Normalfall realisiert. Wenn sie wiedererstarken würden, könnte man dann auch von einem Atavismus im engeren Sinne sprechen?